Fundamentalanalyse: Kennzahlen verstehen
Von Gil Blake, Chefanalyst des QuantumCompute Handelsinstituts
Liebe Anlegerinnen und Anleger,
in der heutigen, oft von kurzfristigen Kurschwankungen und technischen Analysen dominierten Börsenwelt, wird die Bedeutung einer soliden Fundamentalanalyse häufig unterschätzt. In meinen drei Jahrzehnten als professioneller Investor habe ich jedoch immer wieder festgestellt: Langfristiger Anlageerfolg beginnt mit einem tiefen Verständnis der fundamentalen Unternehmenskennzahlen. Heute möchte ich Ihnen die wichtigsten Kennzahlen vorstellen und erläutern, wie Sie diese für Ihre Anlageentscheidungen nutzen können.
Warum Fundamentalanalyse entscheidend ist
Die Fundamentalanalyse basiert auf einem einfachen Prinzip: Der Wert eines Unternehmens wird letztendlich von seiner Fähigkeit bestimmt, Gewinn zu erwirtschaften und Cashflow zu generieren. Während Kurse kurzfristig von Stimmungen, Trends und technischen Faktoren beeinflusst werden, kehren sie langfristig immer zum fundamentalen Wert zurück.
In meiner Karriere habe ich zahlreiche Marktzyklen erlebt, und eine Konstante blieb bestehen: Unternehmen mit soliden Fundamentaldaten überleben nicht nur Marktturbulenzen, sondern gehen oft gestärkt daraus hervor.
Die Schlüsselkennzahlen der Fundamentalanalyse
Lassen Sie uns die wichtigsten Kennzahlen systematisch durchgehen:
1. Rentabilitätskennzahlen
Diese Kennzahlen zeigen, wie effizient ein Unternehmen arbeitet und Gewinne erzielt:
Eigenkapitalrendite (ROE)
Die Eigenkapitalrendite zeigt, wie effizient ein Unternehmen das Kapital seiner Aktionäre einsetzt.
Formel: ROE = Jahresüberschuss / Durchschnittliches Eigenkapital × 100%
Interpretation: Ein ROE über 15% deutet auf ein überdurchschnittlich profitables Unternehmen hin. Besonders wertvoll ist ein konstant hoher ROE über mehrere Jahre.
Praxistipp: Vergleichen Sie den ROE immer mit Unternehmen derselben Branche. Eine Bank mit 12% ROE kann attraktiver sein als ein Einzelhändler mit 15% ROE.
Gesamtkapitalrendite (ROA)
Die Gesamtkapitalrendite misst die Effizienz des gesamten eingesetzten Kapitals, unabhängig von der Finanzierungsstruktur.
Formel: ROA = Jahresüberschuss / Durchschnittliche Bilanzsumme × 100%
Interpretation: Ein hoher ROA zeigt, dass das Unternehmen seine Vermögenswerte effizient zur Gewinnerzielung einsetzt.
Praxistipp: Ein großer Unterschied zwischen ROE und ROA deutet auf einen hohen Verschuldungsgrad hin. Dies kann ein Risikoindikator sein.
EBITDA-Marge
Die EBITDA-Marge zeigt die operative Profitabilität vor Abschreibungen, Zinsen und Steuern.
Formel: EBITDA-Marge = EBITDA / Umsatz × 100%
Interpretation: Eine hohe und stabile EBITDA-Marge deutet auf ein robustes Geschäftsmodell mit Preissetzungsmacht hin.
Praxistipp: Achten Sie auf Trends. Eine kontinuierlich sinkende Marge ist oft ein Warnsignal für zunehmenden Wettbewerbsdruck.
2. Bewertungskennzahlen
Diese Kennzahlen helfen zu beurteilen, ob eine Aktie über- oder unterbewertet ist:
Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV)
Das KGV ist die am häufigsten genutzte Bewertungskennzahl.
Formel: KGV = Aktienkurs / Gewinn pro Aktie
Interpretation: Ein niedriges KGV kann auf eine Unterbewertung hindeuten – oder auf Probleme, die der Markt bereits einpreist. Ein hohes KGV kann sowohl Überbewertung als auch hohe Wachstumserwartungen signalisieren.
Praxistipp: Betrachten Sie neben dem aktuellen KGV auch das “Forward KGV” (basierend auf Gewinnprognosen) und das durchschnittliche KGV der letzten 5-10 Jahre.
Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV)
Das KBV vergleicht den Marktwert mit dem bilanziellen Wert des Eigenkapitals.
Formel: KBV = Aktienkurs / Buchwert pro Aktie
Interpretation: Ein KBV unter 1 bedeutet theoretisch, dass die Aktie unter dem Wert der Vermögenswerte (abzüglich Schulden) gehandelt wird.
Praxistipp: Das KBV ist besonders aussagekräftig bei kapitalintensiven Unternehmen wie Banken oder Versicherungen. Bei wissensbasierten Unternehmen mit hohen immateriellen Werten ist es weniger relevant.
PEG-Ratio (Price/Earnings to Growth)
Die PEG-Ratio setzt das KGV ins Verhältnis zum Gewinnwachstum.
Formel: PEG = KGV / Jährliche Gewinnwachstumsrate
Interpretation: Ein PEG unter 1 gilt traditionell als attraktiv, da der Markt das Wachstum nicht vollständig einpreist.
Praxistipp: Die PEG-Ratio ist besonders nützlich beim Vergleich von Wachstumsunternehmen.
3. Liquiditäts- und Verschuldungskennzahlen
Diese Kennzahlen bewerten die finanzielle Stabilität eines Unternehmens:
Current Ratio
Die Current Ratio misst die Fähigkeit, kurzfristigen Verpflichtungen nachzukommen.
Formel: Current Ratio = Umlaufvermögen / Kurzfristige Verbindlichkeiten
Interpretation: Eine Ratio über 1,5 gilt generell als solide, wobei branchenspezifische Unterschiede zu beachten sind.
Praxistipp: In Krisenzeiten sind Unternehmen mit hoher Current Ratio widerstandsfähiger.
Verschuldungsgrad
Der Verschuldungsgrad zeigt, wie stark ein Unternehmen fremdfinanziert ist.
Formel: Verschuldungsgrad = Gesamtverbindlichkeiten / Eigenkapital
Interpretation: Ein hoher Verschuldungsgrad erhöht die Anfälligkeit für Zinsänderungen und Wirtschaftsabschwünge.
Praxistipp: Betrachten Sie den Verschuldungsgrad im Branchenkontext. Versorger können mit höherer Verschuldung operieren als zyklische Unternehmen.
Zinsdeckungsgrad
Der Zinsdeckungsgrad zeigt, wie leicht ein Unternehmen seine Zinsverpflichtungen erfüllen kann.
Formel: Zinsdeckungsgrad = EBIT / Zinsaufwand
Interpretation: Ein Wert unter 2 ist ein Warnsignal, da selbst kleine Gewinnrückgänge die Zinszahlungsfähigkeit gefährden könnten.
Praxistipp: Diese Kennzahl gewinnt in Zeiten steigender Zinsen besondere Bedeutung.
4. Cashflow-Kennzahlen
Cashflow-Kennzahlen sind oft aussagekräftiger als Gewinne, da sie weniger anfällig für buchhalterische Anpassungen sind:
Freier Cashflow (FCF)
Der freie Cashflow zeigt, wie viel Barmittel ein Unternehmen nach Investitionen in das operative Geschäft generiert.
Formel: FCF = Operativer Cashflow - Investitionsausgaben
Interpretation: Ein positiver und wachsender FCF ist ein starkes Qualitätsmerkmal.
Praxistipp: Achten Sie auf eine hohe FCF-Konversion (Verhältnis von FCF zu Nettogewinn). Werte über 1 deuten auf hohe Qualität der Gewinne hin.
Cashflow-Rendite
Die Cashflow-Rendite setzt den freien Cashflow ins Verhältnis zur Marktkapitalisierung.
Formel: Cashflow-Rendite = Freier Cashflow / Marktkapitalisierung × 100%
Interpretation: Eine hohe Cashflow-Rendite deutet auf potenzielle Unterbewertung hin.
Praxistipp: Diese Kennzahl ist besonders nützlich, um “Cash-Cows” zu identifizieren.
Mein persönlicher Ansatz zur Fundamentalanalyse
In meinen drei Jahrzehnten als Investor habe ich einen strukturierten Ansatz zur Fundamentalanalyse entwickelt:
Schritt 1: Qualitative Analyse
Bevor ich mich mit Zahlen beschäftige, stelle ich mir diese grundlegenden Fragen:
- Verstehe ich das Geschäftsmodell?
- Besitzt das Unternehmen einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil?
- Wie kompetent und vertrauenswürdig ist das Management?
- Welche langfristigen Trends beeinflussen die Branche?
Nur wenn diese qualitativen Aspekte überzeugend sind, gehe ich zur quantitativen Analyse über.
Schritt 2: Fundamentalkennzahlen im historischen Vergleich
Ich analysiere die Entwicklung der Kernkennzahlen über mindestens 5-10 Jahre:
- Wie stabil ist das Umsatz- und Gewinnwachstum?
- Verbessern oder verschlechtern sich die Margen?
- Wie entwickelt sich die Kapitaleffizienz (ROE, ROIC)?
- Gibt es Anzeichen für eine Verschlechterung der Bilanzqualität?
Trends sind oft aussagekräftiger als absolute Werte.
Schritt 3: Branchenvergleich
Ich vergleiche die Kennzahlen mit direkten Wettbewerbern:
- Liegt das Unternehmen über oder unter dem Branchendurchschnitt?
- Rechtfertigen besondere Wettbewerbsvorteile ein Premium-Bewertungsniveau?
- Gibt es Anzeichen für eine Verbesserung oder Verschlechterung der relativen Position?
Schritt 4: Bewertungsanalyse
Schließlich beurteile ich die Bewertung:
- Wie ist die aktuelle Bewertung im historischen Vergleich?
- Welche Erwartungen sind bereits eingepreist?
- Welche Faktoren könnten eine Neubewertung auslösen?
Praktische Tipps für Einsteiger
Wenn Sie neu in der Fundamentalanalyse sind, empfehle ich diesen Ansatz:
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Beginnen Sie mit einer überschaubaren Watchlist: Konzentrieren Sie sich zunächst auf 10-15 Unternehmen, die Sie wirklich verstehen.
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Erstellen Sie eine einfache Kennzahlen-Tabelle: Verfolgen Sie quartalweise die wichtigsten Kennzahlen wie Umsatzwachstum, Margen, ROE und Verschuldungsgrad.
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Nutzen Sie Screener als Ausgangspunkt: Finanzwebsites bieten nützliche Screening-Tools, um Unternehmen nach fundamentalen Kriterien zu filtern.
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Lesen Sie Geschäftsberichte: Die Management Discussion & Analysis (MD&A) bietet wertvolle Einblicke jenseits der reinen Zahlen.
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Verfolgen Sie Analystenschätzungen: Nicht um ihnen blind zu folgen, sondern um zu verstehen, welche Erwartungen bereits eingepreist sind.
Ich bin davon überzeugt, dass ein systematischer Ansatz zur Fundamentalanalyse der Schlüssel zu langfristigem Anlageerfolg ist. Kennzahlen sind dabei wie die Instrumente im Cockpit eines Flugzeugs – sie geben Ihnen wichtige Informationen, aber Sie müssen lernen, sie richtig zu interpretieren und in einen größeren Kontext zu setzen.
Wenn Sie Fragen zur Interpretation spezifischer Kennzahlen haben oder Unterstützung bei der Fundamentalanalyse bestimmter Unternehmen benötigen, steht Ihnen unsere Assistentin Anna Keller gerne zur Verfügung.
Mit den besten Wünschen für fundierte Investitionsentscheidungen,
Gil Blake
Chefanalyst
QuantumCompute Handelsinstitut