Intermarketanalyse: Zusammenhänge zwischen Anlageklassen verstehen
Von Gil Blake, Chefanalyst des QuantumCompute Handelsinstituts
In meinen drei Jahrzehnten als Investor habe ich eine zentrale Erkenntnis gewonnen: Kein Markt existiert in Isolation. Aktien, Anleihen, Rohstoffe und Währungen beeinflussen sich gegenseitig in einem komplexen, dynamischen System. Die Intermarketanalyse – das Studium dieser Zusammenhänge – bietet wertvolle Erkenntnisse, die über die Betrachtung einzelner Märkte hinausgehen und oft frühzeitige Hinweise auf wichtige Marktwendepunkte liefern können.
Die vier Hauptmärkte und ihre klassischen Beziehungen
Traditionell werden vier primäre Anlageklassen betrachtet:
1. Anleihen und Zinsen
Der Anleihemarkt ist oft der Impulsgeber des Intermarketsystems. Änderungen der Zinsstrukturkurve und Renditen von Staatsanleihen wirken als Frühindikator für wirtschaftliche Entwicklungen und beeinflussen alle anderen Märkte.
2. Währungen
Devisenmärkte reflektieren relative wirtschaftliche Stärke und monetäre Politik. Währungsbewegungen wirken sich direkt auf internationale Handelsströme, Rohstoffpreise und exportorientierte Unternehmen aus.
3. Rohstoffe
Rohstoffmärkte reagieren sensibel auf globale Wirtschaftsaktivität, Inflationserwartungen und Währungsbewegungen. Sie bieten oft frühzeitige Signale für Inflationsdruck oder nachlassendes Wirtschaftswachstum.
4. Aktien
Aktienmärkte integrieren Informationen aus den anderen Märkten. Sie reagieren auf Zinsänderungen, Währungsbewegungen und Rohstoffpreise, wobei verschiedene Sektoren unterschiedlich betroffen sind.
Traditionelle Intermarketbeziehungen
Einige klassische Zusammenhänge haben sich über Jahrzehnte als relativ stabil erwiesen:
Anleihen und Aktien: Die grundlegende Beziehung
Traditionell bewegen sich Anleihen- und Aktienmärkte in dieselbe Richtung. Steigende Anleihenkurse (fallende Renditen) gehen mit steigenden Aktienkursen einher, da niedrigere Zinsen wirtschaftliche Aktivität stimulieren und Unternehmensbewertungen unterstützen.
Diese Beziehung kann sich jedoch in inflationären Umfeldern umkehren, wenn Zentralbanken die Zinsen erhöhen, um Preisstabilität zu wahren.
US-Dollar und Rohstoffe: Die inverse Korrelation
Da die meisten Rohstoffe in US-Dollar gehandelt werden, besteht typischerweise eine inverse Beziehung: Ein steigender Dollar führt zu fallenden Rohstoffpreisen und umgekehrt. Diese Dynamik erklärt sich durch:
- Preiseffekte: Bei stärkerem Dollar sind Rohstoffe für Nicht-Dollar-Käufer teurer
- Risikoappetit: Der Dollar dient oft als “sicherer Hafen”, während Rohstoffe bei zunehmendem Risikoappetit profitieren
Rohstoffe und Anleihen: Der Inflationsindikator
Steigende Rohstoffpreise deuten auf zunehmenden Inflationsdruck hin, was typischerweise zu fallenden Anleihekursen (steigenden Renditen) führt. Diese Beziehung macht Rohstoffe zu einem wichtigen Frühindikator für Anleihetrends.
Branchenrotation innerhalb des Aktienmarktes
Verschiedene Aktiensektoren reagieren unterschiedlich auf Signale aus anderen Märkten:
- Finanzwerte profitieren typischerweise von steigenden Renditen und einer steileren Zinskurve
- Exportorientierte Unternehmen reagieren sensibel auf Währungsbewegungen
- Rohstoffproduzenten folgen naturgemäß den zugrunde liegenden Rohstoffpreisen
- Defensive Sektoren wie Versorger korrelieren oft stärker mit Anleihemärkten
Moderne Entwicklungen in der Intermarketanalyse
Die traditionellen Beziehungen haben sich in den letzten Jahren durch verschiedene Faktoren verändert:
Der Einfluss unkonventioneller Geldpolitik
Seit der Finanzkrise 2008 haben massive Zentralbankinterventionen die klassischen Intermarketbeziehungen teilweise verzerrt:
- Die Korrelation zwischen Aktien und Anleihen wurde phasenweise positiv, da beide Anlageklassen von Liquiditätszuflüssen profitierten
- Die Preisfindung an Anleihemärkten wurde durch Anleihekaufprogramme beeinflusst
- Rohstoffzyklen wurden zunehmend von finanziellen Faktoren statt fundamentalen Angebots-Nachfrage-Dynamiken geprägt
Zunehmende globale Integration
Die verstärkte Verflechtung globaler Märkte hat neue Intermarketdynamiken geschaffen:
- Korrelationen zwischen verschiedenen regionalen Aktienmärkten haben zugenommen
- Ansteckungseffekte breiten sich schneller zwischen Märkten und Regionen aus
- Die Bedeutung von Kapitalflüssen für kurzfristige Marktbewegungen hat sich verstärkt
Sektorale Verschiebungen im Aktienmarkt
Die Zusammensetzung von Indizes hat sich signifikant verändert:
- Technologieunternehmen reagieren oft anders auf makroökonomische Faktoren als traditionelle Industrien
- Die abnehmende Bedeutung rohstoffintensiver Sektoren hat die Sensitivität von Aktienindizes gegenüber Rohstoffpreisen verändert
- Die zunehmende Globalisierung von Unternehmen macht nationale Indizes anfälliger für internationale Einflüsse
Praktische Anwendung der Intermarketanalyse
Wie können Sie diese Erkenntnisse in Ihre Anlagestrategie integrieren? Hier mein Prozess:
1. Top-Down-Analyse des Intermarketsystems
Beginnen Sie mit einer breiten Betrachtung:
- Identifizieren Sie den vorherrschenden Trend bei Anleiherenditen und der Zinsstrukturkurve
- Analysieren Sie Stärke oder Schwäche des US-Dollars gegenüber wichtigen Währungen
- Beobachten Sie Rohstofftrends, besonders bei Industriemetallen und Energie
- Leiten Sie daraus Implikationen für regionale Aktienmärkte und Sektoren ab
2. Achten Sie auf Divergenzen zwischen Märkten
Divergenzen – wenn korrelierte Märkte plötzlich auseinanderlaufen – signalisieren oft bevorstehende Trendänderungen:
- Rohstoffe, die trotz fallendem Dollar nicht steigen
- Anleiherenditen, die trotz starker Aktienmärkte ansteigen
- Aktiensektoren, die entgegen dem breiteren Markttrend handeln
3. Identifizieren Sie führende und folgende Märkte
Bestimmte Märkte tendieren dazu, andere zu führen:
- Kupfer und Industriemetalle (“Dr. Kupfer”) als Frühindikator für globale Wirtschaftsaktivität
- High-Yield-Anleihen als Frühindikator für Aktienmarktvolatilität
- Regionalmärkte in Asien, die oft als Vorboten globaler Trends dienen
4. Passen Sie Ihre Sektorallokation an
Nutzen Sie Intermarketerkenntnisse für taktische Sektorrotationen:
- Bei steigenden Anleiherenditen: Übergewichten Sie Finanzwerte, untergewichten Sie zinssensitive Sektoren
- Bei stärkerem Dollar: Fokussieren Sie auf binnenwirtschaftlich orientierte Unternehmen
- Bei steigenden Rohstoffpreisen: Erhöhen Sie Exposure in Energie- und Materialwerten
5. Integrieren Sie verschiedene Zeithorizonte
Analysieren Sie Intermarketbeziehungen auf mehreren Zeitebenen:
- Langfristig (5+ Jahre): Strukturelle Beziehungen zwischen Märkten
- Mittelfristig (6-18 Monate): Zyklische Trends und Korrelationen
- Kurzfristig (Tage bis Wochen): Taktische Divergenzen und Signale
Häufige Fallstricke vermeiden
Die Intermarketanalyse ist mächtig, aber auch komplex. Hier sind typische Fehler:
Überinterpretation temporärer Korrelationen: Nicht jede kurzfristige Korrelation ist bedeutsam. Fokussieren Sie sich auf langfristig stabile Beziehungen.
Vernachlässigung des Kontexts: Intermarketbeziehungen variieren je nach makroökonomischem Umfeld (Inflation vs. Deflation, Wachstum vs. Rezession).
Zu viele Variablen: Die Komplexität kann überwältigend sein. Beginnen Sie mit wenigen zentralen Beziehungen und erweitern Sie Ihre Analyse graduell.
Die Intermarketanalyse liefert keine präzisen Kauf- oder Verkaufssignale, sondern ein breiteres Verständnis des Marktumfelds. Sie ergänzt andere Analysemethoden und hilft, den größeren Kontext für Ihre Anlageentscheidungen zu schaffen.
In einer zunehmend vernetzten Finanzwelt wird die Fähigkeit, über einzelne Märkte hinauszublicken und systemische Zusammenhänge zu erkennen, immer wertvoller. Ich hoffe, dieser Einblick in die Intermarketanalyse erweitert Ihre Perspektive und verbessert Ihre Fähigkeit, Marktentwicklungen ganzheitlich zu interpretieren.
Bei Fragen zur praktischen Anwendung der Intermarketanalyse oder zur Interpretation aktueller Marktentwicklungen steht Ihnen unsere Assistentin Anna Keller gerne zur Verfügung.
Mit vernetzten Grüßen,
Gil Blake
Chefanalyst
QuantumCompute Handelsinstitut